Seit einem Jahr leben wir mit dem Coronavirus. Obwohl die Kindertagesstätten nie ganz geschlossen waren, hat sich hier von heute auf morgen alles verändert: Plötzlich waren die Kitas fast leer, sehr ruhig und die meiste Zeit wurden nur wenige Kinder in Notgruppen betreut. Wie in einem Modellversuch konnte man nun beobachten, wie sich ein guter Personalschlüssel, also das Verhältnis Anzahl der Fachkräfte zu Anzahl der Kinder, auf die Bildungsarbeit in der Kita auswirkt.
Sehr eindrucksvoll war dies in dem Zeitraum von September bis in den Dezember 2020 während des „eingeschränkten Regelbetriebs“ in einem Bereich der cts-Kita Rastpfuhl in Saarbrücken zu beobachten:
Ein Vierjähriger berichtete eines Tages von einem Film, den sein größerer Bruder zuhause gesehen hatte: „Titanic“. Da die tragische Geschichte dieses Ozeanriesen in der Familie offensichtlich ein wichtiges Gesprächsthema ist und er auf YouTube kurze Lego®-Filme zu diesem Thema gesehen hat, erzählte er jeden Tag seinen Freunden und den Erzieherinnen in der Kita davon. Da das Thema ihn – und schließlich auch seine Freunde - weiterhin beschäftigte, bemühten wir Fachkräfte uns um Informationen über das legendäre Schiff. So organisierte eine Kollegin das Buch „Die Suche nach der Titanic“ von R. G. Ballard für die Kita. Sie bat die Kinder, auf dieses Buch ganz besonders gut aufzupassen, da es nicht ihr selbst gehöre und lies es - für die größeren Kinder gut erreichbar – im Sprach & Schrift-Raum.
Die Kinder nahmen ihre Bitte sehr ernst: selten wurde ein Buch so vorsichtig angeschaut wie dieses, was möglicherweise noch zur Faszination der eigentlichen Geschichte beiträgt. Tatsächlich war es nach einigen Wochen immer noch völlig unbeschadet.
Die Kinder sahen sich die Fotos an: alte Schwarz-Weiß-Fotos der Titanic bei ihrer einzigen Fahrt über den Atlantischen Ozean aber auch Aufnahmen, die von Unterwasserkameras vom Schiffswrack am Meeresboden gemacht wurden. Natürlich war es ein Gesprächsthema, dass beim Untergang Menschen gestorben sind. Doch dies schien die Kinder nicht so zu beschäftigen, wie uns Erwachsene. Vielmehr konzentrierten sie sich auf das Aussehen der Titanic und auf die Fotos der Fundstücke an der Untergangsstelle im Meer. „Das ist doch nicht die Titanic, die hatte doch 4 Schornsteine! Das hier ist die Carpathia!“
Immer mehr Kinder fanden an dem Thema „Schiffe“ gefallen. Das unterstützten wir im Team natürlich gerne und versuchten weitere Infos und Materialien zu dem spannenden Thema zu finden.
Da tatsächlich wenig Bücher zu diesem Thema in der Kita zu finden sind, informierten wir uns im Internet: Dort fanden wir vereinfachte Darstellungen verschiedener Schiffstypen mit ihren französischen Bezeichnungen sowie passende Darstellungen. Die Fotos wurden beschriftet und mit einer einfachen Ringbindung zu einem Buch zusammengefügt.
Im Atelier der Kitagruppe wurde das Thema Schiffe ebenfalls kreativ vertieft: Dort bauten die Kinder gemeinsam ein großes Schiff aus Pappe, in dem mehrere Kinder Platz zum Toben und Spielen fanden. Mehrere Wochen wurde das Schiff von den Kindern genutzt. Sei es als Rollenspiel in Form einer Kreuzfahrt oder als Piratenschiff. Passend dazu dekorierte eine Kollegin den Raum mit Bildern von William Turner - einem Maler, der sich auf Landschafts- und Seemalerei spezialisiert hat. Davon inspiriert, wurden die Kinder dabei unterstützt selbst Meeres- und Schiffsbilder zu malen.
Mit all diesen tollen Inspirationen und kreativen Ideen begann Emil schließlich, verschiedene Schiffe systematisch zu malen. Dabei orientierte er sich an den Schwarz-Weiß Darstellungen und der Fotos aus dem Buch. So entstanden zwölf Bilder, die er begeistert mit Klebestreifen zu einem „Buch“ zusammenklebte.
Auch die Erzieherinnen sind von seinen Bildern begeistert und schlugen vor, seine Werke in Form eines Ringbuches zu binden. Emil war begeistert.
Damit es auch zu einem richtigen Buch wurde, benötigte es noch etwas Text. Emil wusste sofort, was er zu den verschiedenen Bildern schreiben wollte. Er diktierte den Erziehern die Texte und gestaltete ein Titelblatt.
Der Junge war Feuer und Flamme für sein „Projekt“: Tagelang gab es für ihn nur sein Buch. Beim Diktieren der Texte war er sogar regelrecht aufgeregt.
Das fertige Werk ist sehr gelungen. Emil ist unglaublich stolz auf sein Buch und schlug selber vor, es in den Bestand der Kinderbücherei aufzunehmen: es wurde seitdem schon einige Male von Kindern ausgeliehen und mit nach Hause genommen.
Angespornt von diesem Erfolg, fingen mehrere Kinder an, selber Bücher zu schreiben. So wurde ein beispielsweise ein weiteres Buch fertiggestellt, in dem es zwar nicht mehr um Schiffe handelt, dafür aber um Herzen, die ihre Mutter suchen. Aber die Idee, die vielen gemalten Szenen zu einem Buch zusammenzubinden, wurde von Emil und seinem einzigartigen Buch über Schiffe inspiriert.
… Im Übrigen gehört nun mittlerweile eine Ausgabe des „Titanic“-Buches zum Buchbestand der Kita.
Text und Fotos: Dorothee Kirch, Bilder: Emil